Was uns Thüringen lehrt

Updates über Updates.
Mittlerweile müsste ich diesen Beitrag zu einem Liveblog machen, denn es ändert sich stündlich etwas.

Mittlerweile ist ausgehend von der Thüringer Ministerpräsidentenwahl diese Demokratieposse zu einer Zerreißprobe und Machtkampf innerhalb der CDU geworden. Die Gelegenheitsvorsitzende Annegret Kramp Karrenbauer hat heute am 10. Februar ihren Verzicht auf die Kanzlerkandidatur erklärt. Und weil es ein Unions-Dogma ist, dass Kanzlerschaft und CDU Vorsitz in einer Hand sein sollen, hat sie damit auch als CDU Vorsitzende abgedankt.

Herr Merz („zufällig“ aber ungemein rechtzeitig von seinem Arbeitgeber Blackrock freigestellt) würde sicher nicht nein sagen, wenn man es ihm anböte. Auch ein Herr Spahn hat da angeblich Ambitionen und Herr Laschet kann sicherlich in seiner Eigenschaft als amtierender Ministerpräsident als gesetzt gelten. Wer auch immer seinen Hut in den Ring wirft – Voraussetzung wird sein, dass Frau Merkel als Kanzlerin abtritt. Nach AKK wird nicht nochmal jemand freiwillig CDU Dompteur unter ihr sein. Das wird alles noch sehr aufregend.

Was vor allem aufregend, aber eher im ungemütlichen Sinne, werden wird: die CDU gibt zwar vor, eine Einheit auf konservativer Basis zu sein – defacto wird diese Partei von tiefen Gräben durchzogen. Und wir reden da nicht von den eher unbedeutenden, weil kleineren, Ost-Verbänden. Wir haben uns viel zu viel von den halbherzigen Bekenntnissen und Parteitagsbeschlüssen hinsichtlich der AfD einlullen lassen. Die Sympathien und Kooperationsgelüste mit der „Fliegenschiss-Partei“ Gaulands und Höckes sind bei der Union weitaus größer als man uns erzählen wollte. Ja, Frau Kramp-Karrenbauer ist auch zurückgetreten, weil sie nie sonderlich durch „Führungsstärke“ auffiel (wie immer man das auch definieren möchte), aber eben nur auch. Vielmehr ist es aber auch so, dass es selbst im Präsidium keine einhellige Überzeugung im Umgang mit der Konkurrenz auf der blaubraunen Seite gibt. Aus diesem Grund wird das durch AKK’s Rücktritt offengelegte Mißverhältnis zwischen Parteiführung und Basis in eine Zerreißprobe übergehen.

Und hier reichte es dann tatsächlich aus, dass sich ein kleiner Landesverband mit einem ehrgeizigen und von der Macht besessenen Vorsitzenden Mike Mohring nicht den Anweisungen aus Berlin beugte. Der Konflikt bei den Schwarzen schwelt ja bereits seit dem „Wir schaffen das“ Sommer 2015 und die Konsensdecke dahingehend war dünn, sehr dünn. Es lag auch nicht an den ostdeutschen Besonderheiten und oder der idiotischen nicht-mit-links-aber-auch-nicht-mit-rechts Vorgabe, an die sich Mohring letztlich nur zur Hälfte hielt. Die Zeit ist wohl einfach reif, dass die CDU erkennen muss, dass sie mit den Demokratieverächtern von der AfD inhaltlich mehr gemein hat, als ihr lieb sein kann. Und es muss wohl jetzt entschieden werden, ob aus dieser Erkenntnis Taten folgen.

Nach der Wahl von Kemmerich zum Thüringer Ministerpräsideten (mit den Stimmen der AfD) gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten der Interpretation:

  • Es ist alles ein großer bedauerlicher Zufall und oder Irrtum
  • oder es ist alles geplant und abgesprochen gewesen. Bis in höchste Stellen der jeweiligen Bundespartei.

Trifft Punkt 1 zu, ist das nur als Ausdruck strunzdoofer Naivität zu werten. Trifft Punkt 2 zu, ist das einfach nur ein Beleg für die moralische Verkommenheit in Teilen des Politikbetriebes. Erst kommt die Macht, dann die Moral. Erst Geltungsanspruch und Machtspielchen, dann Gehirnbeanspruchung. Könnte man den Leuten nicht einfach kiloweise Viagra oder eine allwöchentliche Talkshow spendieren, damit deren Triebe anderweitig befriedigt werden und so etwas nicht passiert? Käme auf die Dauer doch günstiger.

Auch bei den möglichen Auswegen aus dieser Krise stehen wir bei der Zahl 2:

  • Der Landtag löst sich auf und es werden Neuwahlen angesetzt. Mit den entsprechenden Ergebnissen …
  • CDU und FDP vollziehen endlich den längst fälligen Schritt und kooperieren mit der AfD, bevor man das Wort „Brandmauer“ noch mehr beschädigt.

CDU, FDP und AfD haben schon klargestellt, dass es mit ihnen keine Neuwahlen geben wird. Damit ist der gewählte Ministerpräsident nicht regierungsfähig, da es für FDP, CDU, SPD und Grüne zusammen nicht reicht. SPD und Grüne haben bereits geäußert, dass sie als Stimmenbeschaffer eines Ministerpräsidenten von Höckes Gnaden nicht zu haben sind. Somit bliebe nur noch das Schielen auf die Stimmen der AfD.
Würde es Neuwahlen geben (ob nun mit oder ohne das aktuelle Spitzenpersonal), würden sich die Machtverhältnisse fundamental verschieben. Die FDP würde mit Sicherheit pulverisiert werden und nicht mehr dem Landtag angehören, die AfD zur stärksten Kraft werden. Das alles wäre auch eine Konsequenz dieser unseligen Wahl vom 5. Februar und hätte so nicht passieren dürfen.

Was mich erstaunlicherweise aber nicht mehr überrascht: Die Verlogenheit und Scheinheiligkeit, mit der dieser Vorgang heruntergespielt und kommentiert wird. Lindner laviert und druckst, Kubicki ist seit längerem nicht mehr auf diesem Planeten anwesend und AKK ist ein jämmerliches Häufchen Machtlosigkeit. Herr Ramelow hat sich gewaltig verzockt und steht nun vor einem Scherbenhaufen, was einmal seine Karriere war. Die CDU Thüringen hat ihrer ganz speziellen Ansicht nach sowieso alles richtig gemacht und sieht angedrohten Parteiausschlüssen aus der Bundesparteizentrale lachend entgegen. So einen schwachen Vorsitzenden wie Mike Mohring hat man bei dieser Partei lange nicht erlebt. Da hat jemand das Wahlergebnis aus der Landtagswahl 2019 nicht verkraftet. Erst lässt er sich in Berlin hinsichtlich seiner dunkelrot-schwarzen Koalitionsphantasien wieder auf Linie bringen, dann von den blaubraunen Kollegen am Nasenring durch die Manege ziehen, nu um vielleicht noch irgendeinen Ministerposten zu bekleiden. Es hat immer alles diesen Beigeschmack von „eins auswischen“. Wohlgemerkt, diese Kritik ist nur dann gültig, wenn das nicht alles mit den Parteifreunden in Berlin abgestimmt war.

Es gibt jetzt die Möglichkeit, dass man Thüringen zum Versuchslabor erklärt. Schwarz-Blau-Gelb ist eh weniger auseinander, als die Damen und Herren immer behaupten. Falls das für jemanden ein Geschmäckle hat, könnte man auf die verschwindend geringe Größe und Bedeutung Thüringens verweisen und sagen, dass das nicht repräsentativ für die Bundesrepublik wäre und die wählende Bevölkerung zu über 20% ohnehin keine Berührungsängste zur Höcke-Partei hätte.

Wie aber ein Vorsitzender einer Splitterpartei, die um 73 absolute Stimmen fast nicht ins Parlament gekommen wäre, von der „Erfüllung des Wählerwillens“ faselt – ist mir unter Ausklammerung von Alkohol und Drogen unverständlich. Aber für Christian Hirte beispielsweise, dem Ostbeauftragten (!) der Bundesregierung, liegt ja auch die „Mitte“ bei 5 %. Da schämt man sich dann aber doch fast ein wenig.

Work-Life-Balance und so

Noch keine Gesellschaft vor uns, zu keiner Zeit in der Geschichte der menschlichen Hochkultur war bis zum heutigen Tage so produktiv, so automatisiert und mit so vielen Erleichterungen für das Leben ausgestattet wie die, in der wir leben.

Und dennoch haben die Menschen in dieser Gesellschaft so wenig Zeit für sich selbst. Und dabei ist der Output an Stress und Verpflichtungen genauso hoch wie der Output an hergestellten Waren und Dienstleistungen.
Trotz des ganzen Fortschritts häufen Arbeitnehmer Überstunden um Überstunden an und können ihren Urlaub nur zu ganz bestimmten Zeitfenstern nehmen und das in Absprache mit ihren Kollegen. Das variiert natürlich je nach Berufsgruppe, aber die Tendenz ist bei allen so ziemlich gleich.

Das Erstaunliche ist: wenn dann mal wirklich etwas Zeit am Stück „über ist“, dann gibt es nicht wenige Menschen, die dann ein Gefühl der Langeweile fürchten und daraufhin diese Zeit in Hektik mit etwas zu füllen versuchen.

Mitleid mit der SPD

Ja, nach der Europawahl und den Kommunalwahlen empfinde ich Mitleid mit der SPD. Oder nennen wir es nicht Mitleid, sondern eher Enttäuschung und teilweise Entsetzen.
Enttäuschung, weil es nach Rezos Video eher die CDU/CSU massiv hätte treffen müssen und Entsetzen, weil ich im Falle des Ostens genau sehe, wohin die Wählerstimmen geflossen sind.

Machen wir uns keine falschen Hoffnungen, der Erfolg der Grünen ist eine Eintagsfliege und die Situation stellt sich (betrachtet man Europa und auch Deutschland differenzierter) doch ganz anders da, als der grüne Hype uns weismachen will. Oftmals wanderten die verlorenen SPD Wählerstimmen in das braun-blaue Lager von NPD und AfD, jedenfalls im Osten geht man da pragmatischer an die Sache heran. Da benötigt der Wähler keine Verrenkungen des Rückgrats, um gestern CDU, heute SPD und morgen AfD zu wählen.

Und nun wird wieder viel analysiert werden. Es wird Apelle geben. Man wird noch mehr „zusammenstehen müssen“, „besser kommunizieren“ und „das Profil schärfen“. Alles Sachen, die man schon nach der Bundestagswahl 2017 hatte erledigen wollen. Für mehr als eine Personalrochade hat es dann aber doch nicht gereicht.
Und dieses Mal soll nicht einmal das stattfinden. An vor allem zwei Personen kristallisiert sich jetzt die Kritik und die Wut der Parteigenossen: Andrea Nahles und Katarina Barley.
Ja, die Voraussetzungen für die SPD waren nicht wirklich gut, aber dieser einschläfernde Wahlkampf von „mehr ging nicht“ Barley war doch nicht nötig. Nun räumt die Dame ihren Ministerposten und geht als geprügelte Hündin nach Brüssel und nimmt einen Teil der Verantwortung für zweistelligen Prozentverlust mit sich.
Frau Nahles wird wohl oder übel einen ihrer Posten abgeben (müssen). Wenn sie schlau ist, wird das der unnütze Fraktionsvorsitz sein. Als Parteichefin hat sie immerhin noch ein wenig Gestaltungsspielraum, wenn sie denn wirklich nochmal Kanzlerin werden möchte (hüstel). Allerdings rücken bereits jetzt viele „Parteifreunde“ mit der Säge in der Hand an, um die ungeliebte und erfolglose Nahles loszuwerden. Kampflos wird sie ihren Stuhl allerdings nicht räumen, das hat sie schon durchblicken lassen, und wenn man ehrlich ist, wird sie sogar noch gebraucht. Landtagswahlen im Osten und damit weitere Schlappen stehen an und wer auch immer neu auf diesen Posten gewählt worden wäre, müsste gleich zu Beginn seiner Amtszeit 3 krachende Niederlagen verantworten. Dazu kommt die (ernüchternde) „Halbzeitbilanz“ im Wirken in der Großen Koalition, die man auf Seiten der Sozialdemokraten dafür nutzen könnte, entweder die GroKo platzen zu lassen oder schnell noch mit der durchgedrückten Grundrente und etwas Klimaschutz zu punkten. Jedenfalls, so sehr auch Kühnert und Co. giften werden (und wahrscheinlich irgendwo Recht haben): jetzt die GroKo zu verlassen und wieder mal das Führungspersonal auszutauschen und dann bei den Landtagswahlen so richtig baden zu gehen, das wäre einfach suboptimal.
Nahles abzulösen, dafür wäre beim Parteitag Endes des Jahres immer noch Zeit und Gelegenheit. Die Kandidaten könnten sich in Stellung bringen und Nahles die anstehenden Wahlniederlagen als eine Art Bad Bank für sich verbuchen. Und dann kommen Gestalten wie z.B. der Buchhändler aus Würselen zurück, womit wir endgültig beim Thema Mitleid wären.

Mir persönlich ist das Schicksal der angesprochenen Personen relativ egal, und auch ob es die alte Tante SPD nochmal schafft, sich auf ihren Markenkern zu konzentrieren oder an der „Strategiefähigkeit“ zu arbeiten (alles Bullshit Bingo) – aber wenn man sieht, durch was oder wen die verlassenen Altäre bevölkert werden, dann wünsche ich mir eine stabile und verlässliche SPD zurück. Das jetzt hat sich nicht verdient und die Konsequenzen daraus haben auch WIR nicht verdient.

„Die Zerstörung der Annegret Kramp Karrenbauer“

Dass ich mal ein indirektes Lob über Angela Merkel schreiben werde – wer hätte das gedacht?

So sehr ich den „Merkel muss weg“ Ruf mal verstehen konnte (den Ruf, nicht die die ihn rufen), so sehr hat mich die Frage umgetrieben: wenn Merkel mal weg ist, was kommt dann?

Nun wissen wir, wie der Plan in etwa aussehen sollte. Annegret Kramp Karrenbauer wurde erst in das Amt der Parteichefin gehievt, um dann in einem geräusch- und lautlosen Übergang Angela Merkel als Kanzlerin zu beerben.

Und jetzt, nach mißglückten Karnevalsscherzen, der desaströsen Europa- und den nicht berauschenden Kommunalwahlen, dem Rezo Video und dem damit verbundenen, beunruhigenden Vorstoß zur Beschneidung der Meinungsfreiheit kann man nur eines festhalten:

Angela Merkels Schuhe sind Annegret Kramp Karrenbauer zu groß, viel zu groß. Die Schuhe der Parteichefin ohnehin und die Schuhe als Kanzlerin erst recht.

AKK kann Partei nicht und sie kann Kanzlerin nicht.
Nicht, dass ich Merkel in ihrer Rolle als Regierungschefin groß vermissen würde (ihr willentlicher Mangel an politischer Gestaltung ist bei der aktuellen Problemlage einfach nicht vermittelbar), aber der Schock über das nachfolgende Personal sitzt einfach zu tief.
Durch das unglückliche Agieren von AKK in der kurzen Zeit seit ihrer Beförderung bemerken wir erst einmal, wie lautlos und unauffällig Merkel regiert. Durch die ganzen Jahre mit der „stillen Mutti“ ist in uns die Überzeugung gewachsen, dass das ganz normal wäre. Ist es aber offensichtlich nicht. AKK sieht keinen Grund, irgendetwas zu ändern – sehen die CDU Granden das genauso? Wer in dieser personelle ausgebluteten, ehemaligen Volkspartei sollte sie ersetzen? Friedrich Merz? Ursula von der Leyen? Jens Spahn??

Das ist eben auch die Tragik der Angela Merkel. So sehr sie zur Lichtgestalt und Heilsbringerin der Christdemokraten wurde, so sehr lichtete sich die zweite Reihe. Nach ihr kommt lange nichts. Entweder, weil sie alles weggebissen hat oder aufstrebende Talente in ihrer nun überlangen Regierungszeit versauerten.
Kramp Karrenbauer war handverlesen und der eindeutige Wunsch Merkels für ihre Nachfolge. Diese offensichtliche Nicht-Eignung AKKs kann Merkel nicht entgangen sein. Wenn doch, muss man sich fragen, wann ihr das Urteilsvermögen abhanden gekommen ist und wenn nicht, was für einen Grund gerade diese Personalentscheidung hatte. Wollte Angela Merkel ihrer Partei nachträglich eins reinwürgen? Hat der Verlust des Parteivorsitzes sie so sehr gekränkt, dass sie eine blasse Nachfolgerin installierte, um allen zu zeigen, was für einen Fehler sie mit ihrer Demontage machen?
Man wird es wohl nie herausfinden.
Allerdings wird sich wiederum die Zukunft der AKK bald entscheiden. Ihre internen Kritiker begehren immer lauter auf, sie hat gewisse Diskussionen in ihrer Partei nicht mehr im Griff (CO2 Steuer) und bei den kommenden Landtagswahlen im Osten droht die CDU von der AfD überholt zu werden. Und wie man so hört, sind die Wahlkämpfer vor Ort überhaupt nicht mit der fehlenden Unterstützung aus dem Konrad Adenauer Befehlsbunker einverstanden. Ein Putsch wird früher oder später wahrscheinlich.

Eine kleine Notiz an Heidi Klum

Liebe Heidi Klum,

 

vor ein paar Jahren noch habe ich Deine Show „Germanys next Topmodel“ sogar per Blog begleitet.

Schon damals war die Sendung so durchsichtig wie unterhaltsam. Das hat sich bis heute nicht geändert. Gut, Du hast Dich von Deinen letzten Stichwortgebern (euphemistisch „Jury“ genannt) und dem Maybelline-Boris getrennt – aber im Großen und Ganzen bist Du dem Konzept treu geblieben. Einen Menschenzoo vorführen und nebenbei ein „Topmodel“ suchen, nach dem keiner gefragt hat. Es ist nicht so, dass die Branche auf das Resultat Deiner jährlichen Suche dringend angewiesen ist. Die Agentur Deines Vaters schon eher.

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Rückkehren ist schwerer als man denkt

Um Silvester, als wir die Jahreswende im großartigen Gutshof Andres in Pettstadt/Kirchlauter verbracht haben, traf ich morgens beim Frühstück auf Dirk und Ulrich aus Berlin. Also derzeit in Berlin lebend. Wie bei vielen Wahlberlinern ist die originale Herkunft ja mehr oder weniger „exotisch“ und die größten Geistesriesen waren Zugezogene. Das ist eben die große Kraft Berlins, z.B. auch Schwaben und Nordlichtern irgendwie zu integrieren und wenn schon nicht integrieren, dann eben eine friedliche Co-Existenz zu bieten.
Dirk und Ulrich kamen jetzt weder aus dem hohen Norden noch Schwaben, konnten aber jeder für sich eine ähnlich schöne Herkunft vorweisen. Und da alle anderen Silvestergäste schon am Neujahrstag abgereist waren, störte es nicht, dass sich im Pavillon zum Frühstück ein recht unterhaltsames Gespräch entwickelte.
Natürlich kommen auch die Themen, wie Heimat und Herkunft zur Sprache und was man vermisst oder endlich froh ist, hinter sich gelassen zu haben. Es ist ja immer von der Einstellung eines jeden Menschen abhängig, inwieweit er mit seiner Heimat verwurzelt ist, ja ob es einen „Heimatbegriff“ in seinem Denken gibt und wie der belegt ist. Jedenfalls waren beide fürbaß erstaunt, als ich meinen ausgeprägten Hang zur Rückkehr in die alte Heimat klipp und klar darlegte. Ja, könne man denn überhaupt „zurückkehren“? Also nicht räumlich, sondern in eine bestimmte Lebensphase? Würde nicht alles ganz anders sein, als zu dem Zeitpunkt als man fortging? Niemand steigt zweimal in denselben Fluß hieß es bei den griechischen Philosophen. Da ist leider viel mehr dran, als man wahrhaben möchte. Wer einmal gegangen ist, ist gegangen. Eine Rückkehr ist in dem Sinne möglich, dass man „wieder da ist“ – aber es wird nur eine Rückkehr an den Ort sein. Man kann versuchen, alles wieder so einzurichten, wie es war, bevor man ging – aber es ist nicht mehr dasselbe. In den Gedanken ist man immer noch weg und das alte Gefühl stellt sich nicht mehr ein.
In der Schlußszene von Rambo 4 sieht man John Rambo, wie er nach x Jahren auf den Kriegsschauplätzen der Welt der Farm seiner Eltern entgegengeht. Ich habe mich da schon gefragt: wie soll das denn gehen?

Ich habe große Befürchtungen, dass das alles genau so kommen wird, wenn ich dann mal „rückkehre“; obwohl ich jetzt noch gar nicht weiß, wie und wann das sein wird.
Schon während meines ersten Exils galt ich dort als „Landei“ und bei Besuchen in der Provinz als der „Städter“. Man gehört nicht mehr zu den Einen und wird auch nicht zu den Anderen zählen, egal wie man sich verrenkt und die Marotten der Ureinwohner annimmt oder kopiert. Wer nicht in diese Bredouille geraten möchte, sollte sich den Weggang ganz genau überlegen.
Ich habe dann auch an mir bemerkt, dass ich einen Schuldkomplex entwickelte. Je öfter in den Nachrichten oder Zeitungen oder im Internet die desolate Lage und Zukunftschance der alten Heimat thematisiert wurde, desto stärker wurde das schlechte Gefühl, an diesem Zustand einen gewissen Anteil zu tragen, teilschuldig zu sein. Aber manchmal geht es einfach nicht anders. (Ich hoffe, dass diese pauschale Ausrede akzeptiert wird.) Oder haben wir es uns zu einfach gemacht? Nicht selbst genug an den Umständen gearbeitet, die uns nicht gepasst haben?