Musikalische Schätze Teil 3: Carcass – Necroticism – Descanting the Insalubrious

Von allen weniger bekannten Bands, waren Carcass aus Liverpool eine der wichtigsten für die Entwicklung des Death Metal Ende der 1980er und frühen 1990er. Ich weiß, das werde ich noch bei vielen Bands auf diesem Blog sagen.

Neben Bands wie Napalm Death, Brutal Truth oder auch Terrorizer zählte die 1985 in Liverpool gegründete Band zu den Pionieren des Grindcore, aber ihr Werdegang sollte anders verlaufen. Ihr Beitrag zur Etablierung des Death Metal ist unbestritten und ist Anspieltipp für jeden Freund des gepflegten Tod-Metalles.

War Reek of Putrefaction noch ein reines Grindcore Album, hielten ab Simphonies of Sickness zusehends Death Metal Elemente Einzug. Mit ihrem 1992 veröffentlichten Longplayer Necroticism – Descanting the Insalubrious perfektionierten Carcass ihren Sound aus Melodic Death Metal mit Grindcore-Anleihen. Aufgrund seiner komplexen Gitarrenarbeit und anspruchsvollen Songstrukturen gilt dieses Album als Meilenstein in der Entwicklung des Death Metal.

Mein all time favourite von Carcass wird immer Necroticism – Descanting the Insalubrious sein.

Das Album zeigt Carcass auf dem Höhepunkt ihrer technischen Fähigkeiten und kreativen Vision. Es wird von der komplexen und abwechslungsreichen Gitarrenarbeit von Bill Steer und Michael Amott durchzogen. Man bekommt die Riffs nur so um die Ohren gehauen. Dazu Breaks, Tempowechsel, ab und an Rückfälle in den Grindcore. Man kann Elemente des Thrash Metal, Progressive Rock oder auch Jazz ausmachen. Die Texte behandeln weiterhin medizinische Themen wie Verfall, Zersetzung und Krankheit, sie sind aber tiefgründiger und poetischer als noch auf Simphony of Sickness oder sogar auf Reek of Putrefaction.
Auf diesem Album passiert mehr, als bei manchen Metalbands in ihrer gesamten Diskographie.

Das darauffolgende Heartwork gilt als ihr größter kommerzieller wie auch musikalischer Erfolg, markierte aber gleichzeitig den Niedergang der Band. Ich persönlich kann mit melodischem Death Metal nicht viel anfangen, obwohl sich auf dem hier vorgestellten Necroticism – Descanting the Insalubrious zahlreiche melodische Passagen befinden. Diese wirken aber eher groovy als krampfhaft herbeigeschrieben, wie das bei Heartwork der Fall ist.

Nach Heartwork folgte noch der Silberling Swanesong, welcher der Band aber kein Glück brachte. Aufgrund interner Spannungen lösten sich Carcass 1996 auf.

2007 starteten sie ein Comeback und veröffentlichten 2013 das Album „Surgical Steel„, das für seine Rückkehr zu den Wurzeln der Band gepriesen wurde, während es einige der melodischen Elemente, die sie auf „Heartwork“ erkundet hatten, integrierte.

Haben Carcass abgesehen von ihren Achtungserfolgen je den Underground verlassen? Ich glaube nicht wirklich, denn ihre Albumverkäufe lagen doch deutlich unter den damals bekannten großen Metalbands. Es gab einfach so viele gute Bands und wichtige Alben damals, dass die Leute heute nur die absoluten Top-Bands aus jedem Bereich kennen. Deshalb habe ich sie auch in diese Artikelserie mit aufgenommen. Nein, Carcass waren nie die ersten irgendwo. Sie haben keine Altars of Madness hervorgebracht und ich wage zu bezweifeln, dass eine ihrer Scheiben einen Platz unter den Top 5 auch nur irgendeiner Umfrage erreichen wird. Aber es lohnt sich dennoch, in ihrer Werk reinzuhören. Keines der Carcass-Alben ist richtig schlecht, aber jedes für sich sehr unterschiedlich. Die künstlerische Entwicklung der Band hat es mit sich gebracht, dass jeder Fan sein Lieblingsalbum (oder -alben) hat und andere Veröffentlichungen der Liverpooler geradezu ablehnt. Ich verstehe, dass die Grindcore-Schiene auf Dauer eine Sackgasse darstellte. Man kann nur unter Verwendung von Blast-Attacken und Screaming-Vocals keine große Abwechslung hervorbringen. Genauso birgt der melodische Death Metal die Gefahr, sich im seichten Mainstream zu verirren und die alten Fans gänzlich vor den Kopf zu stoßen.

Dieses Album inspirierte viele Bands und produzierte zahlreiche Carcass-Klone aber auch Musiker, die den Sound adaptierten oder weiterentwickelten.

Musikalische Schätze: Thor

And the people called Manowar cheesy …

Der allmächtige Thor in Gestalt von Jon Mikl Thor und seinen Mannen wird für immer einen Platz in meinem Herzen haben. Diese kanadische Band sticht heraus und erfährt erst in den letzten Jahren die Anerkennung, die sie meines Erachtens nach seit langem verdient. Aber dafür gibt es ja auch diese Beitragsserie. Um Bands oder Alben zu besprechen, die vom Mainstream nicht genug gewürdigt werden.

Wenn wir von nicht ganz ernstzunehmendem True Metal der 80er Jahre sprechen, kommt man an der Band Thor nicht vorbei. Es handelt sich hierbei auch eher um eine Konzept-Band (wie später GWAR), ein Hobby-Vehikel des Bandgründers Jon Mikl Thors. JMT war ein Bodybuilder, der sich nach einer sehr erfolgreichen Karriere entschloss, Rockstar zu werden. Meiner Meinung nach ein absolut nachvollziehbares und legitimes Lebensziel. Und welches Bühnengimmick wählt man sich als Bodybuilder? Natürlich die Figur der nordischen Mythologie schlechthin: Thor, der Gott des Donners. Stilecht stand JMT dann auch auf der Bühne: blonde Wuschelmähne, nackter muskulöser Oberkörper, Lederteile mit Nieten und oft einen Hammer oder ein Schwert schwingend. Um das Strongman Image zu unterstützen, wurden bei Auftritten auf Eisenstangen mit den Zähnen verbogen oder Betonteile auf dem Bauch zerkloppt. Mein Gott, was hat man damals bei Konzerten alles geboten bekommen.

In annähernd dasselbe Genre fallen weitere, ja förmlich unzählige Bands aus dieser Zeit. Die wichtigsten und deutlich bekannteren Konkurrenten sind natürlich Manowar. Auch musikalisch waren die auf einem anderen Level unterwegs, selbst wenn sich Thor nicht zu verstecken brauchen und vor Manowar aktiv waren und das Konzept der archaischen Nordmänner ein paar Jahre eher auf die Bühne brachten. Und um ganz ehrlich zu sein: mit Manowar kann ich eher wenig anfangen, auch wenn sie hin und wieder ganz gute Arbeit abgeliefert haben. Aber diese Selbstüberschätzung und -beweihräucherung geht mir gehörig auf den Sack.
Erfinder des Viking- oder Pagan-Metal waren Thor dann aber auch nicht. Vielleicht nur das optisch beeindruckender Aushängeschild. Hier stehen für mich eindeutig Heavy Load in erster Reihe. Der zeitliche Vorsprung mag knapp sein, aber er ist nun mal da. Außerdem kam die Band aus Schweden (Heimvorteil) und übertrieb es im Gimmick nicht so sehr wie Thor. Jon Mikl Thor wurde aufgrund seines Bodybuilder-Backgrounds und des Image nie so richtig ernst genommen.

Zur Illustration des Vergleichs hier ein Heavy Load Song ihres Albums „Metal Conquest“ aus dem Jahre 1979:

Musikalisch und textlich befinden wir uns bei Heavy Load von Beginn an in dem, was später Viking Metal genannt werden soll.

Die ersten Thor Veröffentlichungen in den späten 70ern fielen noch in die Zeit des Proto-Metal, waren also eher rockig mit Glam-Rock Einsprengseln. Hier zwei Beispiele:

Diso-Thor …

Erinnert mich immer ein bisschen an Bands wie Sweet (no offense here).

Später wurde die Musik schon härter und bewegte sich immer mehr in Richtung Power- bzw. True Metal,wofür Thor bis heute bekannt sind und geliebt werden.

Aber bei den Göttern Wallhallas, was für großartige Videos haben Thor später gemacht! Kompromisslos billig und albern. Einfach nur witzig.

Auskopplung von „Unchained“ (?) 1983
Thor: Lightning Strikes von „Unchained“ 1983.
Thor: Knock em down von „only the strong“ 1985.

Ja, die Stimme und die Vocals. Natürlich sind wir hier nicht auf dem Niveau eines Bruce Dickinson oder Rob Halford. Aber mit den Jahren hat JMT dazugelernt und sich verbessert. Keine Passagen mehr gesungen, die nicht seiner Stimme und seinem Können entsprachen. Und ich habe definitiv Schlechteres gehört.
Auch die Produktion der Thor Alben bewegt sich nicht auf Premium-Niveau, aber wie auch für JMT Stimme gilt: habe schon Schlechteres aber dafür mehr Gehyptes gehört. Die Gitarrenarbeit ist gut bis sehr gut. Viele sägende Monsterriffs, auf denen der Sänger seine Stories transportiert. Drums und Bass solide. Dazu überzeugende Soli auf der Gitarre.

Man muss es sagen: Thor machen einfach Spaß (wenn man sie nicht zu ernst nimmt). Die Musik lässt sich gut hören und man denkt an keiner Stelle: Oh Gott, wie schlecht war das jetzt?

Thors Fall in die vergessene Zone wurde dadurch vorangetrieben, dass in den 1980ern eine Konkurrenz in ihrer Kategorie erwuchs, die oftmals einiges besser machte. Es ist aber nicht immer die bessere Qualität, die sich durchsetzt – in diesem Fall war es einfach die schiere Masse an Nachahmungstätern, die auf den Zug aufgesprungen sind. Spätestens ab Mitte der 1980er Jahre entwickelte sich auch der Heavy Metal weiter. Leder blieb zwar weiterhin in Mode, aber Felle nicht. Conan der Barbar, Texte über nordische Götter und Power Metal an sich waren nicht mehr so nachgefragt. Neue Musikstile, professionelle Videos und teurere Produktionen verdrängten Bands der ersten Stunde. Nur folgerichtig, dass sich Thor 1987 auflösten, um dann 10 Jahre später im Zuge der großen Retro- und Revival-Welle wieder zusammenfanden. Seitdem machen sie so weiter, als wäre es immer noch 1983. Der nackte Oberkörper ist aus ästhetischen und Altersgründen einer Phantasierüstung gewichen. Ich anerkenne es, wenn jemand seinen Stiefel durchzieht und seiner Sache treu bleibt – aber schon damals war diese Art von Heavy Metal mehr eine Kuriosität und nicht auf Langlebigkeit ausgelegt (gut, der Erfolg von Bands wie Sabaton scheint mich Lügen zu strafen), aber heute kann ich mich schwer damit anfreunden, dass Thor immer noch dieselbe Art von Musik (mit leichten Anpassungen) machen wie vor 35-40 Jahren und dazu dasselbe Image pflegen. Es fühlt sich an, wie ein Ripp-Off.

Meine Anspieltipps sind Alben wie Only the Strong (1985), Recruits, Wild In The Streets (1986) und die EP Unchained (1983) aus ihrer erfolgreichsten Phase. Aber auch ihr Debüt Keep the Dogs away (1977) hat seinen ganz eigenen Reiz und ist für Freunde des Glam-Rock eine musikalische Perle.

Es gibt auch eine Doku namens I am Thor aus dem Jahre 2015, die ich aber noch nicht gesehen habe. Wahrscheinlich wird daraus noch besser ersichtlich, worin die Faszination für die Band Thor bestand und bis heute besteht.

Gratulation, das diesjährige Sommerloch heißt Layla

Krieg in Europa (Ukraine), wirtschaftliche Verwerfungen sowie überlastete Gesundheitssysteme (nicht ausschließlich aber auch wegen Corona) und eine baldige Gas- und Energiekrise – aber die Menschen haben die Diskussion um einen Ballermann-Hit namens „Layla“ zum diesjährigen Sommerloch gekürt. So schlecht kann es uns also noch nicht gehen.

Jetzt wird herzhaft gestritten und argumentiert. Darf dieser Song gespielt werden, sollte man ihn verbieten? Ist er sexistisch, rassistisch, antisemitisch, whatever? Geht jetzt die Hochkultur vor die Hunde? Und was ist überhaupt mit der Spider Murphy Gang, wo sich die Nutten die Füße plattstanden und jeder heute noch Rosis Nummer kennt (Datenschutz, irgendwer?).

Mir ist klar, dass in Krisenzeiten alles ein wenig anders funktioniert und die Leute nach banalen Aufregern suchen, um nicht täglich mit der Realität konfrontiert zu werden – aber so ein selten dämliches Thema, um das Sommerloch zu stopfen, hatten wir selten. Ich meine, es ist ja nicht einmal ein Sommerloch vorhanden, Themen gäbe es genug, die uns unter den Fingernägeln brennen sollten (siehe Eingangsparagraph). Es ist nicht so sehr das Vorhandensein eines Sommerlochs überhaupt; es ist nur diese unglaubliche Diskrepanz zwischen dem eigentlich Wichtigen und der dämlichen Layla-Debatte. Nur zur Erinnerung: es fühlte sich sogar der Bundesjustizminister berufen, einen Kommentar abzugeben.

Und nein, ich kann auch Eric Claptons „Layla“ nicht mehr hören.

Lasst doch die Leute hören, was sie wollen. Es sei denn, es verstößt gegen das Gesetz. Ansonsten gilt die Kunstfreiheit.

Slowdive – die Shoegaze Götter sind zurück

Es gibt sie also doch noch, die Milde und Güte der Götter.
Sie hatten ein Einsehen und vor allem Mitleid mit uns armen Sündern und sandten ihre Propheten zurück auf die Erde. Damit sie unter uns weilen und Gutes tun.

Haben sie auch.

Nachdem sich Slowdive 2014 ja schon für ein paar Liveauftritte auf diversen Festivals wiedervereinigt hatten, haben sie jetzt auch ein neues Studioalbum veröffentlicht. Also, der Menschheit geschenkt.
Slowdive lautet der eponyme Titel dieses Silberlings, auf den die Fans satte 22 Jahre warten mussten. Jaja, die Götter können auch grausam sein …

Natürlich klingen meine Shoegaze-Helden nicht mehr so unbekümmert wie 1992 und auch die Pedals und Effektmaschinen werden viel überlegter eingesetzt, aber schon bei den ersten Gitarrenriffs ist der alte Slowdive-Zauber sofort wieder da. Die hellen Gitarrenschläge, die Echo- und Hall-Effekte, die Melodiestrukturen, die sich irgendwo in Traumregionen verlieren, das prägnante Schlagzeug – es ist alles da, was zu einem großartigen Slowdive-Album gehört. Man muss sich nur mal in Everyone knows oder Slomo reinhören, um gewahr zu werden, welche Klanggemälde diese Musiker imstande sind aufzubauen.

Ob es nun an Rachel Goswells durch Krankheit bedingter Taubheit liegt oder die Stimme nicht mehr ganz so da ist – jedenfalls sind ihre reinen Gesangsanteile gegenüber den früheren Alben stark zurückgefahren worden. Wenn es aber drauf ankommt, haucht die Sirene wie eh und je.

Oftmals hat man ja den Fall, dass großartige Musiker in ihren Alterswerken so eine Art Zynismus an sich selbst anlegen und so zum Beispiel die Erstlingswerke verleugnen. Das kann ich bei Slowdive nicht ausmachen. Sicherlich wird kein zweites Shine zu erwarten sein und auch der Hang zu überlangen epischen Songs hat sich verwachsen, aber dafür gibt es eben auch die Frühwerke, an die man sich halten kann.

Ich halte nicht viel von Vergleichen. Slowdive klingen eben wie Slowdive. Nicht mehr ganz so jugendlich verspielt, etwas glatter aber eben noch immer wie die Band, die Anfang bis Mitte der 90er Jahre die Maßstäbe im Shoegazing setzte.

Kaufempfehlung – diese Frage stellt sich mir gar nicht. Wirklich nicht. Eine Band, die soviel an Renommee zu verlieren hat, kommt nicht nach 22 Jahren wieder im Studio zusammen, um Murks abzuliefern.