Ist das für die Pferde?

Ich starte mal mit einer kleinen Artikelserie zum Thema „Auch das war die DDR“.

Heute: eine kleine Geschichte zur Grundversorgung im Friedensstaat, die auf einer wahren Begebenheit beruht.

Besuch der Großmutter in der DDR

Es begab sich, dass wir ab Mitte der 1980er Jahre hin und wieder von meiner Großmutter aus den Vereinigten Staaten besucht wurden. Warum und Wieso jetzt Amerika und Überhaupt, ist eine lange Geschichte.
Sie ist bei ihren Besuchen immer direkt von der amerikanischen Konsumgesellschaft der Reagonomics in die sozialistische Realität der DDR geplumpst. Zwar hat sie zuvor immer Station bei ihren Verwandten in Westberlin gemacht (zum Aklimatisieren), aber das milderte den Kulturschock nur unwesentlich.

HO Kaufhallen – kulinarische Genusstempel der DDR

HO Kaufhalle
unsere alte Kaufhalle 2004

Ich weiß noch, dass wir einmal mit ihr einkaufen waren. Damals hießen die Supermärkte ja noch HO Kaufhallen und waren für den Städter der zentrale Anlaufpunkt in Sachen Grundversorgung. Auf dem Dörfern war es ja häufig der Konsum (bitte die erste Silbe betonen) oder es lief über Eigenversorgung.
Unsere Kaufhalle war für DDR Verhältnisse recht gut ausgestattet. Ein großer Neubau, das Sortiment relativ breit gestreut, regelmäßige Warenanlieferung (z.B. das Brot aus der städtischen Großbäckerei) und vor Arbeitsschluss angenehm leer.
Natürlich gab es auch Zustände dort, die man selbst als junger Stöpsel negativ registrierte und mit dem offiziell gezeichneten Propagandabild nicht vereinbaren konnte. Die lieblose Gestaltung der Kaufhalle an sich, die angeschlagenen Regale (selten repariert oder ausgetauscht), das ewig lange Anstehen nach Einkaufswagen, die Suche nach einem frischen Brot nach 16 Uhr („Tausend mal berührt“ … ein alter Zonenscherz) und vieles mehr …

Und jetzt liebe Jugendliche von heute – aufgehorcht! Das ist jetzt wichtig für die Geschichte:
Es gab keine elektronischen Kassen mit Scannerfunktion. Das war auch nicht nötig. Alle Produkte hatten einen festgelegten Verkaufspreis und somit entfiel auch der Grund, Strichcodes anzubringen, was wiederum Waagen für Obst und Gemüse sowie Plastikfolienverpackung überflüssig machte. Gemüse war entweder im Stückpreis (Kohlköpfe) oder in abgepackten Beuteln/Netzen (Kartoffeln, Rosenkohl) zu kaufen. Den Verantwortlichen unserer Kaufhalle erschien es wahrscheinlich als ausreichend, wenn das Obst und Gemüse so dargeboten wird, wie es angeliefert kam. In großen, dreckigen Holzstiegen oder -kisten. Ich machte immer einen großen Bogen um den Gemüsekauf. Da wurde nichts irgendwo in mit Stoff ausgekleidete, extra ausgeleuchtete Regale einsortiert. Es lag einfach nur so rum.

Landwirtschaft im Umland
landwirtschaftlich geprägtes Umland

Meine Großmutter hatte bemerkt, dass wir selbst zwar Stadtbewohner waren, aber das Umland stark landwirtschaftlich geprägt war. Wir sind bei unseren Fahrten an vielen Bauern vorbeigekommen, die zum Beispiel mit dem Pferdegespann ihr Heu eingefahren haben. Sie lebt dazu noch in einem amerikanischen Bundesstaat, in dem immer noch viele Leute in der Landwirtschaft beschäftigt sind und viel mit Pferden gearbeitet wird.
Ob sie die Versorgungsfunktion unserer Kaufhalle jetzt falsch interpretiert hat, weiß ich nicht. Aber beim Anblick unserer Obst- und Gemüseabteilung fragte sie ernsthaft:

Ist das für die Pferde?

Die Beantwortung dieser Frage führte zu zwei erschrockenen Gesichtern. Eins bei meiner Großmutter, als sie realisierte, dass sie das Pferd war, in dessen Magen die leckeren Möhren, Sellerie und Weißkohlköpfe landen sollten und eins bei meiner Mutter, die von der Ernsthaftigkeit der Frage überrascht war und zweitens eine sofortige Deeskalation einleiten musste („Nicht so laut, Mutter – das ist für uns“). Es hätte ja sein können, dass ein verdienter Mitarbeiter des Versorgungsbereiches in Hörweite stand und die unerhörten Verleumdungsversuche aus dem imperalistischen Ausland bei den Behörden zur Sprache brachte.

Nicht zu lösende Widersprüche

Ich weiß nicht mehr so ganz genau, wie sich das alles aufgelöst hat. Meine Großmutter hat ja offensichtlich den Anschlag auf ihre Gesundheit irgendwie überlebt und das Qualitätsgefälle zwischen ihrer Ausbeutergesellschaft und unserer überlegenen Friedensgesellschaft zur Kenntnis genommen (was sie nicht daran hinderte, diesen Unterschied bei anderen Gelegenheiten herauszustellen).
In einer Zeit, in der die DDR erinnerungstechnisch entweder die Heimat liebenswert verschrobener Charaktere wie in „Sonnenallee“ oder die perfide Diktatur der Unterdrückung und Bespitzelung wie in „Weißensee“ ist, muss man einfach mal sagen – auch das war die DDR. Eine ganz banale Normalität, in der sich die Menschen trotz der offensichtlichen Widersprüche eingerichtet hatten.

Schreibe einen Kommentar