In epidemischen Zeiten

Leute, vor 20-25 Jahren habt ihr es entschieden: ausufernder Konsum basierend auf global dahingaloppierender Marktwirtschaft. Ungehemmter Austausch von Menschen und Material. Die persönliche Sinnsuche im indischen Jogi-Schrein und Schnorcheln am Roten Meer. Bio-Knoblauch aus China und Familienzusammenführungen in Lateinamerika. Es muss doch allen klar gewesen sein, dass das keine Einbahnstraße ist. Nur die Vorteile mitnehmen und die Nachteile ausklammern – das funktioniert eben nicht.
Wer sich bis zur Oberkannte Unterlippe diesem System verschrieben hat, fürchtet jetzt natürlich rigide Maßnahmen und kann daher auch keinen Quarantänen für ganze Städte, Reisebeschränkungen oder Absagen von Veranstaltungen zustimmen. Ich habe den Namen nicht mehr parat, aber der Chef eines Tourismuswirtschaftsverbandes hat angemahnt, dass doch bitte das Geschäft am Laufen gehalten werden soll. Ein paar Erkrankte und Tote dürften nicht das Wirtschaften gefährden. Was wäre erstmal los, wenn das Wirtschaftswachstum sich abschwächt oder sogar ins Negative verkehrt? Diese Denkweise ist gleichzeitig konsequent und bitter.
Herr Spahn sagt, sein Ministerium und er sehen keinen Sinn darin, ganze Städte abzuriegeln und das „öffentliche Leben lahmzulegen“. Dass die Chinesen durch genau dieses Vorgehen uns Zeit erkauft haben (die wir hätten besser nutzen können), wird nicht erwähnt oder wenn, dann in Abrede gestellt. Dabei geht es nur um eins: solange wie möglich das System am Laufen zu halten, Kapital und Waren umzusetzen. Noch schnell den letzten Euro mitnehmen. Wofür eigentlich? Der Autor Micky Beisenherz hat das in einem Twitter-Tweet sehr gut auf den Punkt gebracht. Solange in Deutschland keine Fußball-Bundesliga-Spiele abgesagt werden, herrscht hier der Normalfall. Absagen der Karnevalsveranstaltungen wie in Venedig? Niemals. Jetzt sucht man die 300 Teilnehmer einer Sitzung und deren x Kontakte, weil man ja nicht ahnen konnte, dass sich ein Virusträger auf dem Karneval herumtreibt. Lassen sie sich diese Begründung noch einmal durch den Kopf gehen.
Harald Schmidt hat nach dem 11. September 2001 gesagt, wie beruhigend es doch auch gewesen sei, dass diese ganze Medienmaschine nach dem Anschlag auf das World Trade Center (die Älteren erinnern sich) für zwei Wochen in die Zwangspause gegangen ist. Man könne aber auch nicht immer gleich zwei Wolkenkratzer dafür in Asche legen. Wie wahr, wie wahr.

Ganz ehrlich, etwaige Unterbrechungen von Lieferketten interessieren mich nur, wenn sie Lebenswichtiges betreffen. Beispielsweise Medikamente (da habe ich den Engpass schon erfahren dürfen, da die Wirkstoffe dafür in Zentralchina hergestellt werden). Ob darunter auch Autoteile oder Klamotten fallen, muss jeder mit seiner eigenen Prioritätenliste abklären. Wie verlautbart wurde, verzögert sich nun auch die Einführung des neuesten iphone Modells. Dass das eine Topmeldung ist, drückt den herrschenden Zeitgeist treffend aus.
Früher war Berlin (als es noch Frontstadt war) stolz auf seine „Senatsreserve“. Da wirkte noch die Berlinblockade 1948/49 nach. Fragen sie heute mal einen Logistikmanager über Lagerhaltung. Das ist schon seit Jahren nicht mehr „in“. Die ganzen Großlager von einst befinden sich heute auf Containerschiffen und in LKWs auf der Straße. Mittlerweile sind Desinfektionsmittel in deutschen Apotheken und Drogerien Mangelware, auf Amazon und Ebay tummeln sich die Kriegsgewinnler (so nannte man das früher) und rufen für Atemschutzmasken Wucherpreise auf. So sieht die „gute Vorbereitung“ in Deutschland aus. Es ist nicht so, dass die Verantwortlichen die Situation nicht kennen – es wird einfach nur gepokert und gehofft, dass man mit diesem Bluff oder der Selbsttäuschung irgendwie durchkommt. Bei den Chinesen wundert mich das nicht, insgesamt zählt da ein Menschenleben nicht viel. Die Ware Mensch ist im Überfluss vorhanden und problematisch wird es nur, wenn das Wirtschaftswachstum oder die Macht der Volkspartei in Gefahr gerät. Dass wir hier so offensichtliche Anzeichen derselben Vogel-Strauß-Taktik und Leck-mich-Mentalität erleben, überrascht mich zumindest in dem Maße ihrer Zurschaustellung.

Ich muss auch was gestehen: ich bin kein Experte in dem Bereich. allerhöchstens Hobby-Virologe und geschichtlich an dem Thema interessiert. Die Maßnahmen und Methoden, mit denen man jetzt auf die Epidemie – und es ist hier völlig unerheblich, ob man jetzt Pandemie sagen darf/sollte oder nicht – reagiert, wurden schon im ach so dunklen und rückständigen Mittelalter erfunden und erprobt. Das einzige Problem der damit befassten Menschen war ihr unzureichender Wissensstand über Viren und Übertragungswege an sich beziehungsweise ihre eingeschränkten Möglichkeiten des Machbaren. Schnelles Temperaturmessen durch einen massenhaft verfügbaren Scanner? Labortest durch Rachenabstrich? Mal eben das Rattenproblem in den Städten lösen? Unmöglich. Und dennoch haben sie die Zusammenhänge gesehen und mit Quarantänen, Isolierungen und Unterbrechungen der Handels- und Warenströme zu reagieren versucht. Seit 650 Jahren haben wir das Besteck an Maßnahmen nur graduell weiterentwickelt, nicht unbedingt strukturell. Vor allem nach SARS 2002/2003 hätte ich gedacht, dass wir weiter sind. Vor allem im Zusammenwirken über Ländergrenzen hinweg, wo wir doch die großartige EU haben. Während man hier irritiert ist, dass auch Italien zum Mittel der großflächigen Abschottung greift, begrüßt die WHO genau dieses Vorgehen. Während ein Bahn-ICE an der österreichischen Grenze aufgrund von Verdachtsfällen gestoppt wird, fährt der Flixbus munter weiter. Merke: auch Viren haben ihren Stolz und reisen nur per Zug.
In Singapur oder Japan klappt es doch auch. Vorbildliche Rundumversorgung und Information in Singapur, flexible Arbeitszeitenregelung in Japan. Und Deutschland? Zu schwerfällig, zu bürokratisch, einfach zu satt. Als die Chinesen zwei Spezialkrankenhäuser mit einer Bettenkapazität von 2.300 in nur wenigen Tagen errichteten, taten sich hier nur die üblichen Bedenkenträger hervor und fragten hämisch nach Umweltschutz, Baugenehmigung und Mindestlohn bzw. Sinnhaftigkeit einer solchen Virenbrutstätte. Als ob diese aus der Not geborenen Gebäude einem typischen chinesischen Klinikbau entsprechen würden. Dass in Wuhan einfach nur die Kacke am Dampfen war, für soviel Einsicht und Empathie reichte es in Deutschland nicht. Manchmal schämt man sich für diesen Haufen von degenerierten Dumpfbacken und Besserwissern hier.
Was hat man sich mokiert, als es nach dem verheerenden Hurrikan Katrina in New Orleans zu Plünderungen ein Einbrüchen kam. Typisch, dieser Neger. Wie planvoll und überlegt die heimische Bevölkerung handelt, sieht man ja in den Regalen der Lebensmitteldiscounter und Drogerien.

Und bitte, lasst dieses Politiker-Bashing. Wenn wir uns schon ehrlich miteinander machen, gehört auch diese Wahrheit dazu: jedes Land wird von den Politikern regiert, die es verdient (die 5 € klingeln gerade im Phrasenschwein). Außerdem sind sie nur das nach Außen sichtbare Symptom des Zustandes unserer Gesellschaft. Hattet ihr denn vor Corona und Co. ein Problem mit der Globalisierung? Habt ihr auch immer schön in die Armbeuge geniest und nach dem Klogang die Hände gewaschen? Bei den Streiks gegen Budgetkürzungen von Krankenhauspersonal und/oder Ärzten – wart ihr da auf der unterstützenden oder auf darüber schimpfenden Seite?

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