Ukraine-Russland – viel Meinung, wenig Ahnung

Ich wollte eigentlich gar nicht so viel über die Ukraine und den Krieg dort schreiben. Einfach aus dem Grund, da ich nur Beobachter bin und bei den wenigen halbwegs seriös anmutenden Informationen aus der Ukraine und Russland nicht beurteilen kann, wie belastbar und vertrauenswürdig sie sind. Alles erschließt sich nur über historische Vergleiche und Auswertung von Fakten.

Viele reagieren jetzt mit Häme über das langsame Vorankommen der russischen Armee oder sprechen von einem Fiasko, Debakel, Desaster – ohne die nötige Expertise oder einen Einblick ins Geschehen zu besitzen. Ja, im Krieg können unvorhergesehene Dinge geschehen. Dinge und Ereignisse, die nicht alles, aber vieles ändern können. Solche Dinge kann man nicht vorhersehen und im Nachhinein haben aber alle gewusst, dass es nur so kommen konnte. Es gibt viel Meinung, bei wenig Wissen und Ahnung.

Bei richtiger Führung, klarem (machbaren!) Auftrag und entsprechender Planung würden wir heute längst die Ausgestaltung der ukrainischen Kapitulation besprechen. Es ist auch nicht gesagt, dass wir das in ein paar Wochen nicht auch tatsächlich tun werden. Es schwebt ja immer der 9. Mai als Deadline im Raum.
Russland hat immer noch alle Möglichkeiten, seine wie auch immer gesetzten Ziele zu erreichen. In Kiew spricht man stolz von „Rückeroberungen“, dabei rücken die ukrainischen Soldaten nur in die Orte und Gebiete nach, die die russische Armee zuvor aufgegeben hat. Nicht im Kampf verloren, sondern aufgegeben. Der Rückzug über die russische oder weißrussische Grenze erfolgt nur zum Zweck der Wiederaufstellung zerschlagener Einheiten, der Auffüllung mit Treibstoff, Munition und Gerät oder Umgruppierung zur Schwerpunktsetzung im Südosten. Der ukrainischen Armee kann man Beharrlichkeit, Widerstandswillen und auch geschicktes Taktieren attestieren, aber sie hat derzeit keine Chance, den Aggressor aktiv vom eigenen Territorium zu vertreiben. Eine Kriegspartei, die nur in der Defensive steht, kann auf Dauer einen Konflikt nicht gewinnen. Das sollte man immer im Hinterkopf behalten, aller Propaganda zum Trotz.

Heute, 6 Wochen nach Kriegsbeginn, zeichnet sich uns ein Bild, in dem Putins Soldaten tatsächlich einen Blitzkrieg gegen Kiew führen sollten. Die vielen Angriffskeile, die die Masse des ukrainischen Heeres binden sollten, der extra über das verseuchte Gelände von Tschernobyl vorgetragene Vorstoß (um Zeit zu sparen) auf Kiew, der Kampf um den Flugplatz Hostomel mit Spetznaz Einheiten – das alles weist auf einen versuchten Enthauptungsschlag der militärischen und politischen Führung des Landes hin. Offensichtlich hat man sich im Kreml aber in vielen Dingen katastrophal geirrt. Wer da jetzt wen falsch informiert hat (oder es noch immer tut) – alle spekulieren, keiner weiß es. Wer wurde vom Oberbefehlshaber Putin unter Hausarrest gestellt, gefeuert oder auch nur kaltgestellt? Das Agieren des russischen Militärs in den ersten Tagen des Krieges, macht jedenfalls nur unter der Annahme einen Sinn, dass die ukrainische Bevölkerung die russischen Soldaten als Befreier willkommen heißt und die ukrainischen Militärs keinen Finger rühren werden. Und nein, für so dumm sollte niemand die russische Armee halten, dass sie ohne Aufklärung, ohne begleitende Infanterie, ohne Verbund der Streitkräfte aus der Luft ihre Panzerkolonnen ungeschützt durch „Feindesland“ fahren lässt. Sie haben oft genug bewiesen, dass sie zu einer modernen Kriegsführung im Waffenverbund fähig sind. Sie haben das Material und eigentlich auch das Personal und die größeren Ressourcen. Wer sagt uns, dass sie bei den nächsten Offensiven im Donbass und Südosten – die definitiv erfolgen werden – nicht aus ihren Fehlern gelernt haben und taktisch anders vorgehen? Es ist mitnichten so, dass man von einem generellen Versagen sprechen kann und es sich bei den Invasionstruppen im zerschlagene Bataillone handelt, wie ich es kürzlich mit einem Anflug von Fremdscham in einer großen deutschen Zeitung lesen musste.

Wir unterschätzen die Opferbereitschaft der russischen Soldaten, und vor allem der russischen Gesellschaft. Wir reden uns gern ein, dass es da zwei Russlands gibt – einmal das böse Regime kriegslüsterner Despoten und dann das friedliebende, zivilgesellschaftliche Russland. Das aktuelle Meinungsbild vom Meinungsinstitut Levana sagt da etwas anderes. Es ist eine einzige Gesellschaft, die zwar unterschiedliche Facetten zeigt, aber im Kern geschlossen hinter ihrer Führung steht. Ja da kann man mit dem Finger auf die böse Putin-Propaganda zeigen und sich einreden, dass das russische Volk es ja nicht besser wissen konnte – aber ich fürchte, das passt einfach nur zu gut in unser Narrativ. Wladimir Putin ist es egal, wieviele Flugzeuge, Panzer und Soldaten seine Armee verliert. Auch der wohl rechtswidrige (?) Einsatz Wehrpflichtiger regt ihn nur insofern auf, als dass man ihn über diesen Fakt nicht informiert hat. Das ist alles „Verbrauchsmaterial“ auf dem Weg zum Ziel. Und dieses Ziel ist durchaus noch erreichbar. So sieht er das. So sehen seine Vertrauten das. Seine Einheiten arbeiten sich Stück für Stück voran, die Raketen und Bomben zerstören Stück für Stück die ukrainische Infrastruktur und Wehrhaftigkeit. Fällt Mykolajew, fällt Odessa. Fällt Dnipro, fällt Kiew. Fallen Kiew und Odessa, fällt Lwiw und die Westukraine.

Würde die Einsatzgruppe im Westen Weißrusslands auch noch eingreifen und von Brest in Richtung Süden vorstoßen, wären auch die Nachschublieferungen der westlichen Europäer mit einem Mal beendet. Der Grund, warum diese Einheiten nicht schon längst aktiv geworden sind, ist unklar. Möchte man die Nato-Anrainer nicht provozieren? Ist der Nachschub sogar vernachlässigbar, weil die Raketen und Marschflugkörper mehr zerstören, als geliefert werden kann? Ist es, weil dieser Vorstoß nur im Verbund mit den weissrussischen Streitkräften des Alexander Luschenko durchführbar wäre? Der letzte Diktator Europas hält sich bisher immer noch zurück und hofft wieder einmal mit seiner Schaukeltaktik durchzukommen. Gegen die Nutzung seines Landes als Aufmarsch- und Versorgungsgebiet der russischen Armee kann er nichts unternehmen, er ist Putin wegen 2020 noch eine ganze Menge schuldig. Aber der Krieg in der Ukraine ist bei der weissrussischen Bevölkerung unpopulär Genauso unpopulär ist er in Teilen der Armee. Angeblich ist sogar der Generalstabschef Viktor Gulevich zurückgetreten, weil Teile der Armee und des Offizierskorps mit offener Rebellion gedroht hätten. Das wäre schon starker Tobak, lässt sich aber wie vieles nicht verifizieren. Auch die Sabotageakte gegen die belarussischen Eisenbahn sind womöglich eher Nadelstiche als entscheidend, aber zumindest sind sie ein Hoffnungsschimmer, dass die Weissrussen sich nicht komplett vereinnahmen lassen.

Ach ja, das mit den Sanktionen. Mir kommt es so vor, als ob diese Sanktionen eher ein Mittel sind, um den moralischen Kompass des Westens einzunorden. Diese Sanktionen werden den Krieg nicht beenden und ihn auch nicht verkürzen. Sie werden auchn Putin nicht stürzen, egal was westliche Lautsprecher sich erträumen. Die russische Militärmaschinerie ist auf Kooperation mit dem Westen nicht angewiesen. Ihr gehen keine Ressourcen aus. Herr Putin muss nichts importieren, um Panzer, Bomben oder Flugzeuge zu bauen. Öl für Treibstoff hat er genug. Auch wird in Russland niemand verhungern, weil plötzlich McDonalds keine Quetschbulette mehr verkauft. Bei Öl und Getreide sehen wir, dass Russland und die Ukraine Exporteure sind. Von Öl, Kohle und Erdgas ganz zu schweigen. Die Slowakei schert bereits aus dem Anti-Russland-Verbund aus und erklärt öffentlich, dass sie sich Putins Gas-gegen-Rubel Erpressung beugen wird. Das ist nicht die Entscheidung eines Feiglings, das ist einfach nur eine klare und nüchterne Bestandsaufnahme mit einer logischen Handlung. Nun auch noch Ungarn, dass nicht nur an den Öl-, Gas- und Kernbrennstoff-Lieferungen festhält und diese notfalls auch in Rubel zahlt. Nein, Herr Orban trägt auch eine Verschärfung der Sanktionen nicht mit. Es sieht so aus, als ob die Reihen in Europa doch nicht so fest geschlossen sind. Natürlich könnte Deutschland ein sogenanntes Energieembargo durchführen und auf russisches Öl und Gas verzichten. Wir haben zwar keinen Plan B für so einen rigorosen Schritt, aber machbar wäre das. Es würde uns nur weitaus mehr schmerzen als Russland und dabei den Krieg nicht mal verkürzen. Abgesehen davon, dass es nichts am Zustand ändert, wäre es eher ein Signal, ein Ausdruck von Haltung. Pathetisch und sinnlos. Da müssten unsere Politiker abwägen, ob sie sich der Unterstützung der Bevölkerung so sicher sind, dass sie diesen Schritt wagen. Denn anders als in Russland kann eine gewählte Regierung durch unkluge Entscheidungen auch schnell wieder aus dem Amt gejagt werden.

Es maßen sich ja derzeit auch viele Leute an, sich über Putins Motivation und vor allem seine geistige Verfassung ein Urteil zu bilden. Psychologische Gutachten aus der Ferne, sozusagen. Diese Leute haben sich dann am 24. Februar entweder katastrophal geirrt oder sich im Nachhinein ganz dolle im Recht befunden. In beiden Fällen braucht mal also darauf nichts geben. Es hilft nämlich nicht weiter.

Und nun auch noch Butscha (und andere „befreite“ Ortschaften). Halte ich das für möglich? Durchaus. Was haben die Leute denn gedacht, was Krieg bedeutet? Halte ich die Meldungen und die Schilderungen für authentisch/real? Kommt es darauf an, für was ich sie halte? Was immer dort passiert ist – es existieren Mittel und Wege, das kriminalistisch nachzuweisen. Zur Beurteilung und vor allem zum Fortgang des Krieges ist es nicht wichtig, das hieb- und stichfest zu belegen. Es ist mir auch unmöglich. Hufeisenpläne (Jugoslawien) und getötete Babys in Brutkästen (Kuwait) sowie Massenvernichtungswaffen (Irak) haben mir ein gewisses Maß an Skepsis antrainiert. Nein, hilft den möglichen Opfern in Butscha nicht weiter.

Schreibe einen Kommentar